Stadtansichten I


(Beobachtungen unterwegs März 2011)


Als ich vor Jahren allein essen war, in Berlin wohlgemerkt, fragte man mich alle 10 min, ob denn mein „Gegenüber“ auch noch käme. Auch auf mehrere Versicherungen meinerseits, ich wäre vorsätzlich allein gekommen und nicht „versetzt“ worden, milderte sich der mitleidige Blick der Bedienung nicht. Offenbar glaubt man mir kein Wort.

Zeitblende. Nicht ganz 20 Jahre später.

Vor mir, links und rechts neben mir, sitzen sie. Gerade kommt noch eines dieser Großstadtexemplare durch die Tür. Den Blick auf den Boden geheftet, nimmt es an einem der freien Tische Platz. Allein. Offenbar in der Absicht, Nahrung zu sich zu nehmen, denn es nimmt die Speisekarte der asiatischen Bedienung wortlos entgegen.

Eine kleine Familie an einem Fensterplatz wirkt exotisch. Dort wird gelacht, sich geneckt, mit den Stäbchen gespielt. Ich kann nicht umhin den männlichen Part zu beobachten. Er wirkt sichtlich bemüht um die Gunst des Kindes, das sich gerade bockig über seinen Hocker hängt und merkwürdige Geräusche macht. Mit einem Kind Sushi essen gehen halte ich sowieso für Perlen vor die Säue, na gut, Frischlinge, werfen. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob seine Aufmerksamkeit dem nervigen Kind gilt, oder doch eher der vollbusigen Mutter mit Knackarsch, die stolz die Bemerkungen ihres Sprosses kommentiert. Mutterliebe versus Mutter lieben.

Mir ist, als würde er sehnsüchtig auf uns arme allein speisende Gestalten blicken. Wie mondän und unabhängig und vor allem ungenervt wir uns der Befriedigung unser alleinigen Wünsche hingeben können. Die Stäbchen morsen klickernd das Wort Freiheit auf dem pseudochinesischen Porzellan.

Ich für meinen Teil allerdings bin mächtig genervt. Und zwar von dieser Sammlung Egoismus um mich herum. Das Sushi ist auch nicht besonders. Langsam stelle ich Gemeinsamkeiten zwischen diesen Alleinesserexemplaren, die mir unheimlich sind, fest. Bis eben waren es nur Männer.Nun kommt ein weibliches Exemplar durch die Tür, dass mit ihren blauen Stiefeln zu rotem Mantel „Ich bin eine fabelhafte Amelie“ zu kommunizieren versucht. Und auch sie hat ihr „Gerät“ am Ohr.Shuffle, Nano, Touch oder Classic. Eine IPodmanie scheint ausgebrochen zu sein. Hauptsache so ein kaltes Licht ausstrahlendes kleines Wunderding in den Händen halten. Berühren. Streicheln. Es mit Blicken liebkosen. In es hineinfragen: “Na, wie geht es?“

Es ist gruselig, welche Blüten dieses Großstadtleben so treibt. Wenn ich sagen will, dass es mir gut geht, wähle ich eine Nummer. Ich bin traurig, Nummer wählen. Einer von meinen neuen tausend Netzwerkfreunden wird schon gerade Zeit haben, weil er ja auch gerade allein in einem total individuellenRestaurant im Großstadtdschungel vor seinem bestellten Essen sitzend darauf wartet, dass sein Handy, sorry Ipod, in seiner Hand vibriert und die Vielfalt und den Abwechslungsreichtum seiner Stadt sich selbst mantramäßig gut singt.

Wie konnte das nur passieren, dass Menschen sich selbst in die Isolation katapultieren an so einem belebten Ort wie meiner Heimatstadt. 50% aller Haushalte sind Singlehaushalte. Vermutlich die ein Hälfte freiwillig, die andere Hälfte genau darum eben nicht. Nagut, vielleicht sind sich auch ein paar einig dabei. Ist ja auch entspannter. So ohne feste Beziehung. Kein Bock auf Kompromisse. Freiheit um jeden Preis. Ich habe mich schon immer gefragt, warum hier in Berlin so viele Hundebesitzer sind. Aber mir wird klar, mit einem Hund brauch man nicht viele Kompromisse eingehen. Wenn du mir auf den Boden pisst, schläfst du draußen. Reicht. Während man also die eine Zeit die Wohnung wischt, versucht man in der anderen Zeit in dem Lärm der Großstadt irgendwie total individuell auf sich aufmerksam zu machen. Wie macht man nun aber auf seine Bedürfnisse aufmerksam? Wie kommuniziert man sich am auffälligsten? Wie wird man gehört, in all dem Lärm?

Am besten mit schriller Kleidung, brutalem Auftreten, meckern und Fresseziehen.Hilft auch. Individualität durch abgrenzen, eigen sein, spezifisch, persönlich.Hautsache, sich von jemand anderem unterscheiden. Auffallen. Um jeden Preis. Und wenn das alles nicht hilft, gibt’s ja immer noch den Ipod, dem ich sagen kann, f... mich, bis ich mich wieder spüre in dem Chaos.